Dark Tourism: Die Faszination an historischen Orten des Todes
„Ich habe den Eindruck, als würden die Besucher_innen diesen Ort nur durch ihr Smartphone oder ihre Kamera wahrnehmen.“[1] Diese Beobachtung schrieb ich am 4. März 2017 in mein Feldtagebuch. Meine Kommiliton_innen und ich hatten den ganzen Tag in der KZ-Gedenkstätte Dachau verbracht und beobachtet, wie sich Menschen an diesem Ort verhalten. Selbst im Krematorium, in dem sich manche Besucher_innen nicht mal zu flüstern trauen, wird die Stille durch das Klicken der Fotoapparate unterbrochen. Das Fotografieren an Gedenkstätten ist ein Ergebnis der zunehmenden touristischen Wahrnehmung und Nutzung ebendieser. Neben ihrer Funktion als Orte des Lernens, der (politischen) Bildung und des Trauerns sind sie touristische Ziele. Diese Funktionen stehen nicht nebeneinander, sondern sind häufig ineinander verflochten. Die ‚großen‘ Gedenkstätten ehemaliger Konzentrations- und Todeslager, wie zum Beispiel Auschwitz, Dachau oder Buchenwald sind mittlerweile zu Reisezielen[2] geworden und daher in touristische Routen eingebettet. Die KZ-Gedenkstätte Dachau ist nach Auschwitz-Birkenau das am häufigsten besuchte ehemalige Konzentrationslager und wird jährlich von ungefähr 800.000 Menschen besichtigt.[3] Auf dem Parkplatz der Gedenkstätte kommen im Laufe des Tages Dutzende Reisebusse an, es gibt Führungen, Veranstaltungen und Exkursionen, ein angeschlossenes Museum und auch einen Souvenirshop.
Erwartungen, Wünsche, Imaginationen: Warum gehen wir an Gedenkstätten?
Orte des Todes und des Schreckens üben aber auch eine ganz andere Faszination aus: Die Gewalt und die Gräuel, die dort stattfanden, werden zur eigentlichen Attraktion.
Akteur_innen der Gedenkstättenlandschaft in Deutschland fragen immer wieder nach der Motivation der sehr diversen und oft internationalen Besuchergruppen. Die Vermutung liegt nahe, dass beim Besuch einer KZ-Gedenkstätte eine andere Motivation vorherrscht, als beim Besuch eines ‚normalen‘ Museums. Dementsprechend unterscheiden sich auch die Erwartungen an den Ort.[4] Wer ein ehemaliges KZ besucht, tut das, weil er_sie sich politisch bilden möchte, weil er_sie den Menschen, die an diesen Orten ihre Leben ließen, gedenken will oder auch schlicht, weil ein Besuch einer solchen Stätte zum Bildungskanon und Lehrplan gehört. Orte des Todes und des Schreckens üben aber auch eine ganz andere Faszination aus: Die Gewalt und die Gräuel, die dort stattfanden, werden zur eigentlichen Attraktion. Im akademischen Kontext wird eine derart motivierte Aufmerksamkeit für Orte des Schreckens seit Mitte der 1990er als dark tourism bezeichnet.[5]
Das Geschäft mit dem Tod – dark tourism als Marketingstrategie
Nach dem Unfall der Costa Concordia im Januar 2012 pilgerten Tausende Schaulustige zur italienischen Insel Giglio. Mindestens 300.000 Soldaten starben in der Schlacht von Verdun auf deutscher und französischer Seite, heute wirbt die Region vor allem mit Stätten des Ersten Weltkriegs. Viele Angebote werden vor Ort und im Internet offensiv beworben; auch deshalb fällt es immer leichter, die Schauplätze des Todes ins eigene Urlaubsprogramm zu integrieren. Dark tourism als Marketingstrategie führt Menschen zu Foltermuseen, ehemaligen Schlachtfeldern (z.B. zu den Killing Fields in Kambodscha) oder an Orte menschengemachter Katastrophen wie Hiroshima und Tschernobyl. Die ehemaligen Konzentrations- und Todeslager in Auschwitz- Birkenau, Sachsenhausen oder Dachau sind besonders düstere Orte und Ziele dieser Art von Tourismus. Historisch betrachtet ist dark tourism kein neues Phänomen: „Dark tourism has always existed in some form or other.“[6] Vor allem der Begriff und das Marketing, die sich um den wachsenden Markt im Tourismus herum entwickelt haben, ist ein neues Phänomen, das auch im Alltag vieler Menschen Platz gefunden hat. Es ist schwer bis kaum messbar, welche Besucher_innen ganz bewusst als dark tourists reisen. Das würde bedeuten, dass sie Gedenkstätten, Schlachtfelder oder Katakomben nur aufsuchen, weil sie am Tod als Solchem interessiert sind. Die Motivation für einen Gedenkstättenbesuch ist nicht immer die gleiche, sondern sie ist dynamisch und wandelbar. Aus diesem Grund waren wir bestimmt alle schon einmal für eine gewisse Zeit als dark tourists an einer Gedenkstätte unterwegs, ohne uns dessen bewusst zu sein. Für die Wissenschaft ist dark tourism daher eine schwierige Kategorie, da man zwar auf eine spezielle Besuchsmotivation stößt, welche aber schwer bis gar nicht zu evaluieren ist, da sie „analytisch keine Trennschärfe bietet.“[7]
Selfie vor dem Krematorium – Aushandlungen von Angemessenheit
Auf www.dark-tourism.com kann man nicht nur recherchieren, welche 800 Orte des Grauens man in Ländern von A wie Albanien bis U wie Usbekistan besuchen kann; unter der Rubrik Tours werden laufend Angebote aktualisiert, die zu Orten, an denen Massaker, Katastrophen und Folter stattfanden, führen. Die Seite wird von einer Privatperson betrieben und bietet neben ausführlichen Informationen zu den verschiedenen Orten auch einen Bereich, der sich mit ethical issues auseinandersetzt und der Art, wie man sich an diesen Orten verhält:
“All too often did I have to witness some unbelievable conduct at sites even as somber and chilling as Auschwitz, Sachsenhausen or the Killing Fields in Cambodia – such as prancing about and posing for snapshots with the apparently prerequisite ‘cheese’ grin as if the site was just some theme park […].”[8]
Dieses Zitat veranschaulicht, dass Angemessenheit auch in Zusammenhang mit Tourismus, sei er nun dark oder nicht, einem Aushandlungsprozess unterliegt. Ist es angemessen, an Gedenkstätten Selfies zu machen oder das Krematorium zu fotografieren? Und macht mich dies automatisch zu einem dark tourist? Egal ob Schulklassen, Individualreisende, ‚Kaffeefahrten‘ oder der lokale Geschichtsverein – alle Besucher_innengruppen bringen verschiedene Interessen, Bilder und Motivationen an und in die Gedenkstätten. Der Grat zwischen Lernort und skurrilem Voyeurismus ist daher schmal: Das Phänomen dark tourism ist keines, das sich nur einer bestimmten Gruppe zuschreiben lässt. Zu einem gewissen Grad durchzieht es sie alle, da der Besuch einer Gedenkstätte heute immer häufiger touristischen Logiken unterliegt: Sei es der Zeitplan der Busreise, die Kommerzialisierung im Museumsshop oder das „Ich war da“-Selfie vor dem Krematorium.
Maria Blenich
[1] Feldtagebucheintrag vom 4. März 2017.
[2] Vgl. Skriebeleit, Jörg: Grüße aus Flössenbürg. Tourismus und KZ-Gedenkstätten. In: Dittrich, Ulrike/Jacobeit, Sigrid (Hg.): KZ-Souvenirs. Erinnerungsobjekte der Alltagskultur im Gedenken an die nationalsozialistischen Verbrechen. Potsdam 2005. S. 28-39, hier S. 31.
[3] Vgl.: Lennon, John J./ Weber, Dorothee: The long shadow. Marketing Dachau. In: Hooper, Glenn/Lennon, John J.: Dark Tourism. Practice and Interpretation. London 2017. S. 27-39, hier S. 30.
[4] Vgl. Skriebeleit 2005, S. 28.
[5] Vgl. Hooper, Glenn: Introduction. In: Hooper, Glenn/Lennon, John J.: Dark Tourism. Practice and Interpretation. London 2017, S. 1-11, hier S. 2.
[6] Hooper 2017, S. 3.
[7] Vgl. Skriebeleit 2005, S. 32.
[8] Hohenhaus, Peter: Ethical Issues. URL: http://www.dark-tourism.com/index.php/about/18-main-menus/mainmenussubpages/602-ethical-issues (Zugriff: 27.06.2017).